Carlo Ratti zur kollektiven Intelligenz der Stadt
28. November 2024
Von Sorana Radulescu
„We are passionate about cities!“ Mit dieser Aussage begann Carlo Ratti, der international renommierte Architekt und Ingenieur sowie Leiter des Senseable City Lab am Massachusetts Institute of Technology (MIT), seinen Vortrag am zweiten Tag des Klimafestivals. Sein Forschungsgegenstand sind Städte, und zwar weltweit. Auf nur 3 Prozent der Erdoberfläche leben 55 Prozent der Weltbevölkerung in urbanen Siedlungen und verursachen 75–80 Prozent der schädlichen Emissionen und des Energieverbrauchs des Planeten. Diese Bilanz lässt viele Fragen über unsere urbane Zukunft offen.
Wie viel kann man von einer Stadt lernen, indem man sie nur betrachtet? fragte sich Ratti und zitierte dabei den berühmten Stadtplaner und Autor Kevin Lynch. Während Lynch die empirische Untersuchung der visuellen Ordnung der Stadt als Analysemethode prägte, nutzt Ratti Datensätze. Am Senseable City Lab betrachtet der Architekt mit seinem Team Städte als lebende Organismen, die wertvolle Daten liefern. Auf dieser Grundlage lassen sich konkrete Probleme einer Stadt vielschichtig analysieren und optimieren. Zu abstrakt? Anhand konkreter Fallbeispiele erklärte Ratti, wie man die Ströme der Stadt nutzt, um unkonventionell Daten zu erheben, und wie man diese Daten kreativ einsetzt, um herauszufinden, wie eine Stadt funktioniert.
Kann der Autoverkehr in New York reduziert werden? Das Senseable City Lab analysierte Daten der Taxifahrten in Manhattan und ermittelte den Bedarf an geteilter Mobilität. Auf dieser Grundlage entstand das Angebot Uber Pool. Kann die komplizierte und kostenintensive Wartung der Golden Gate Brücke in San Francisco neu gedacht werden? Für die Erfassung der feinen Schwingungen nutzte sein Team einfache Smartphones. Lässt sich die Luftqualität einer Stadt umfassend dokumentieren? In Cambridge scannten Müllwagen die Temperatur und Feuchtigkeit in allen Stadtbereichen. Was passiert mit dem Müll, nachdem er entsorgt wird? In Seattle verfolgte er den Weg von 3000 Abfallobjekten, die Menschen vor dem Wegwerfen getaggt hatten. Von den Pariser Boulevards bis zu den labyrinthischen Gassen der brasilianischen Favelas scheint Ratti alle urbanen Realitäten erfassen und verstehen zu können, um daraus anschauliche Lösungsansätze abzuleiten.
Die vernetzte Intelligenz einer Stadt durch die Perspektive von Datensätzen zu interpretieren – dieses Thema begleitet Carlo Ratti auch in seiner Rolle als Kurator der 19. Internationalen Architekturausstellung in Venedig. Er envisioniert eine Architekturbiennale jenseits der Architekt*innen, in der das Kollektive Vorrang hat und interdisziplinäre Zusammenarbeit Muster aus der Natur repliziert. Für die Auswahl der Beiträge initiierte er einen Open Source-Prozess. Da ein Standort der Ausstellung – die Giardini – wegen Umbaus geschlossen bleibt, rückt die Lagunenstadt in den Fokus. Venedig soll, so Ratti, zu einem Living Lab fungieren. Besonders gespannt darf man auf das erstmalig geplante „zero waste“-Konzept sein, wofür Ratti ein Manifest mit der Ellen MacArthur-Stiftung erarbeitet. Ein ambitioniertes Projekt, bei dem weniger die Technologie als vielmehr der Mensch und die Umwelt im Mittelpunkt stehen und das dem Begriff „Senseable City“ eine neue Bedeutung verleiht.